Good Reads: Die Hauptstadt

Die Hauptstadt, Robert Menasse, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017; 459 Seiten, 24 €

Eigentlich suchte ich etwas ganz anderes. Literatur, die das fragile Fundament der Eurorettung seziert, die stillen Korruptionen der Finanzkrise bloßlegt, die erzählt, wie Missstände sich selbst perpetuieren, wenn sie nur ordentlich verwaltet werden. Ich erwartete Zahlen, Zynismus, vielleicht ein wenig moralischen Schutt. Stattdessen stieß ich auf Robert Menasses Die Hauptstadt, und fand mich plötzlich in einer Welt wieder, die alles andere tat, als zu entlarven. Sie verstand. Sie blickte hin, mit einer Zärtlichkeit, die man im politischen Diskurs längst verlernt hat. Und sie zeigte Europa nicht als System, sondern als Organismus, atmend, widersprüchlich, menschlich. Ich wollte Ökonomie, und bekam Empathie. Ich wollte Aufklärung, und geriet in einen Roman, der die Bürokratie zum Schauplatz des Gewissens macht.

Brüssel ist keine Stadt, die geliebt wird. Sie wird verwaltet. In Robert Menasses Die Hauptstadt aber atmet sie, zwischen Sitzungssälen und Schweinehöfen, zwischen Kafka und Kommission. Was bei anderen bloß Stoff für Karikaturen wäre, EU-Beamte, Lobbyisten, Abkürzungen, wird bei Menasse zum Stoff für große Literatur. Denn hier geht es nicht um Politik, sondern um Menschen, die in der Politik gestrandet sind.

Menasse baut seine Geschichte wie ein Brüsseler Baukomplex: viele Flure, viele Türen, manche verschlossen, manche führen direkt in den Maschinenraum Europas. Dort sitzen Fenia Xenopoulou, ehrgeizig, elegant, gestrandet in der Kulturdirektion, und Martin Susmann, der melancholische Idealist mit bäuerlicher Herkunft und einer Idee, die so naiv wie richtig klingt: das fünfzigjährige Jubiläum der Europäischen Kommission mit Auschwitz-Überlebenden zu feiern. „Nie wieder Auschwitz“, das war schließlich der Gründungssatz der Union. Menasse weiß, dass Sätze Geschichte tragen können, und dass man sich an ihnen stoßen muss, wenn sie lebendig bleiben sollen.

Zwischen diesen Figuren schaltet der Autor mit einer Souveränität, die an Musils Parallelaktion erinnert, nur ohne dessen Kälte. Jeder Charakter ist verwurzelt in einem Milieu, einer Sprache, einer Haltung, und doch sind sie alle Teil eines Apparats, der versucht, aus Geschichte Zukunft zu machen. Menasse zeichnet sie nicht als Bürokrat:innen, sondern als Menschen, die an Formularen und Idealen gleichermaßen scheitern. Und indem er das tut, rettet er das Politische ins Poetische hinüber.

Was bei anderen trocken wäre, wird bei Menasse lebendig. Selbst seitenlange Exkurse über den europäischen Schweinemarkt lesen sich mit Spannung, weil sie nicht ökonomisch, sondern existentiell gemeint sind. Europa, das zeigt dieser Roman, ist kein Vertrag, sondern eine Stimmung, zwischen Müdigkeit und Moral, Routine und Hoffnung. Das Schwein, das durch Brüssel läuft, ist da kein Symbol, sondern eine Offenbarung, grotesk, widersprüchlich, wunderbar wahr.

Menasses Sprache ist von jener kontrollierten Präzision, die nie auf Effekt zielt, sondern auf Bedeutung. Er erzählt mit Geduld, nicht mit Tempo, mit Vertrauen in die Intelligenz seiner Leser:innen. Wenn er am Ende eine Kriminalhandlung einschiebt, einen Mord, eine Verschwörung, einen frommen Killer, dann wirkt das fast wie ein Fremdkörper. Der Roman braucht keinen Plot, um zu funktionieren; er funktioniert, weil er atmet, denkt, zweifelt. Weil er glaubt, dass Literatur Europa ernster nehmen kann als die Politik es tut.

Die Hauptstadt ist ein seltenes Buch, intelligent, zärtlich, politisch, ohne jemals agitatorisch zu werden. Es denkt die Bürokratie als Drama, das Individuum als Träger einer Idee, die größer ist als es selbst. Wer Brüssel nach der Lektüre verlässt, tut es mit dem Gefühl, Europa zum ersten Mal gesehen zu haben, nicht als Institution, sondern als Möglichkeit.

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