Good Reads: Verfluchte Neuzeit
Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens, Karl-Heinz Ott, erschienen im Carl Hanser Verlag, München 2022; Gebunden, 432 Seiten, 26,00 EUR
Ich halte Karl-Heinz Ott nun schon seit einigen Jahren die Treue. So lese ich fast jeden neuen Text von ihm kurz nach Erscheinen. Verfluchte Neuzeit hatte ich bereits im März 2022 gelesen und mir damals ausführliche Notizen gemacht – nur gingen diese auf einem meiner beschädigten Tablets zunächst verloren. Erst jetzt, eine etwas komplizierte Datensicherung später, kann ich die Besprechung abschließen. In der Zwischenzeit ist eine ganze Reihe kluger Rezensionen erschienen, die ich im Folgenden gerne mit einbeziehe.
Kaum ein Jahr, in dem nicht von „Krise der Moderne“ die Rede ist. Querdenker:innen vor dem Reichstag, ein Schamane im Kapitol, autoritäre Fantasien in Talkshows – Karl-Heinz Ott ordnet diese Bilder ein in eine lange Genealogie des reaktionären Denkens. Sein Buch Verfluchte Neuzeit ist ein Panorama der Antimoderne, von den Gegnern der Aufklärung bis zu den intellektuellen Stichwortgebern heutiger Autokratien. Die zentrale Frage, die Ott stellt, lautet: Hat die Aufklärung ihren Zweck verfehlt – oder ist sie selbst die Quelle ihrer Krisen?
Otts Ansatz ist essayistisch, aber in der Anlage historisch weit gespannt. Von Joseph de Maistre bis Carl Schmitt, von Heidegger bis zu den „Philosophen Putins“ reicht die Linie, die er zieht. Es ist ein Panoptikum, das zeigt, wie alte Muster in neuen Kontexten wiederkehren: die Sehnsucht nach Transzendenz, die Abwehr individueller Freiheit, der Ruf nach Ordnung und Autorität. Der Autor macht deutlich, dass die antimodernen Impulse so alt sind wie die Moderne selbst – und dass sie bis heute wirksam bleiben.
Die Kritik hat das Buch breit aufgegriffen. Die Welt am Sonntag sprach von einer „Tour de Force, hochalpin, in Sneakers“: nicht immer die passenden Schuhe, aber ein weiter Ausblick. Die Neue Zürcher Zeitung lobte den Überblick über die Nährböden, auf denen heutige Autokratien gedeihen. Die Süddeutsche Zeitung hob die Zugänglichkeit hervor, mit der Ott die Neuzeitkritik entfaltet, und der Deutschlandfunk betonte den essayistischen Gestus, der gleichermaßen provoziert wie informiert. Selbst Kritiker:innen, die Otts Urteilsschärfe als vorschnell empfanden, erkannten den Gewinn zumindest doch in der wirklich beeindruckenden Materialfülle.
Ott schreibt mit einer Mischung aus Leichtigkeit und Dringlichkeit. Mal aphoristisch, mal im Stakkato, mal fast polemisch, aber durchgehend mit spürbarem Ernst. Seine „Verfluchte Neuzeit“ ist kein distanzierter Forschungsbericht, sondern ein engagiertes Plädoyer, die Gegner der Vernunft ernst zu nehmen. Darin liegt die Stärke, aber auch die Angriffsfläche des Buches: Wer den essayistischen Zugriff als zu pauschal empfindet, mag Ott Einseitigkeit vorwerfen; wer sich mit ihm treiben lässt, erlebt eine geistige Wanderung voller überraschender Ausblicke.
So bleibt am Ende ein Eindruck, der sich in vielen Rezensionen spiegelt: Verfluchte Neuzeit ist anregend, streitbar und beunruhigend. Es zeigt, dass die Moderne nie nur Fortschritt war, sondern stets von ihren Schatten begleitet. Otts Essay ist nicht der letzte, aber ein notwendiger Beitrag, um diese Schatten klarer zu erkennen.