Russlands Angriff auf die Ukraine einordnen mittels Interviews aus dem Jahr 2017? Das geht, und zwar anhand einer Serie von Interviews des us-amerikanischen Investigativformats FRONTLINE. Denn die Interview-Serie FRONTLINE – The Putin Files auf dem US-Sender PBS seziert exzellent das System Putin, mit einem besonderen Schwerpunkt auf die Expansionsbestrebungen und das gefährliche Geschichtsverständnis Wladimir Putins. Besonders empfehlenswert: Das circa zweistündige Gespräch mit Julia Ioffe eine ist eine der beiden tiefen Reisen in Vergangenheit und Gegenwart des Kreml-Herrschers. Ioffe, welche gebürtig aus Russland stammt, ist eine hervorragende Publizistin und Kennerin des Kremls, Putins und des politischen Establishments Russlands.
Das Interview ergänzt dabei fantastisch Masha Gessons Ausführungen zu Putins Dresdner Zeiten. Gesson geht in ihrem Interview auf alle Details in Wladimir Putins Biografie ein. Hier kommt nicht viel Neues zu dem, was aus einschlägigen Biografien bekannt ist. Doch entscheidend klarer als die zahlreichen Biografien dies darstellen, fordert Gesson schlicht, auf jenes Bild zu achten, welches Putin von sich vor seinem Leben in der Öffentlichkeit zeichnet.
Und sie stellt klar, welches Ziel Putin seit Beginn seiner Präsidentschaft anstrebt:
“[…]Putin wanted the return of the bipolar world.”
ulia Ioffes Einblicken in Putins Art der Machtausübung folgend versteht man schnell, welche politische Agenda Putin schon lange verfolgt, wie er denkt und handelt. Interessant: Sowohl die Journalistin und Russlandkennerin Ioffe wie auch Antony Blinken, der 2017 noch vor seiner jetzigen Position in der Reigerung Biden interviewt wird, gehen übereinstimmend davon aus, dass Putin zwar taktisch handelt, aber schwach im Erarbeiten komplexerer Strategien ist. Das macht den Machthaber im Kremel nicht weniger unberechenbar, im Gegenteil, und vor allem nicht ungefährlicher, bildet aber die Klammer zwischen dem Kaukasuskrieg 2008, der Annexion der Krim und dem vollendeten Angriffskrieg gegen die Ukraine nun.
Ioffe:
„This is the thing: we think of Putin as this perfect villain; that he has everything, that he has thought of everything, that he has everything planned out, and that he can implement those plans perfectly. He can’t. He makes blunder after blunder after blunder. And the things that look to us as big victories, they are victories in the moment, they are tactical victories. But strategically, they are a disaster.“
Blinken:
„While Putin seemed to be having some tactical success, it was our strongly held view that he was not heading in a positive strategic direction in terms of Russia’s interests, because in a sense, everything he was trying to prevent, he was, in fact, precipitating. This intervention in Ukraine cost him a relationship with the vast bulk of Ukranian people far into the future. Russia is now hated in much of Ukraine. NATO was dramatically re-energized by Russia’s intervention in Ukraine, led by the United States. […] Europeans became more united when it comes to energy security, again because of this. And so, across the board, Russia actually strategically was getting into a weaker position. Then of course the sanctions, most important, together with the falling oil prices and Russia’s own mismanagement, was gutting the Russian economy far into the future. So, tactically, yeah, Putin was doing pretty well. Strategically, a very open question.“
Sehr deutlich entlarvt Blinken das Hauptnarrativ des putintreuen Russlands gegenüber westlichen Demokratien als einfachen Whataboutism-Dauermodus zu. Die durch russische Auslandsmedien wie RT verbreiteten Erzählungen über Fehler westeuropäischer Rechtsstaatlichkeit und us-amerikanischer Dekadenz als Zerrbilder eigener Unzulänglichkeiten, der Versuch das aus aus eigener Perspektive ständig wackelnde Weltbild mit Schreckgespenstern aus dem Westen zurechzurücken.
Blinken:
Whenever your’re, in one way or another, mismanaging your own country, you’ve got to point fingers somewhere else. He’s found it useful to point them at us and at the West.
Und so bilden die drei Interviews eine solide Grundlage für alle, die bisher wenig oder nur Allgemeines über Putin und seinen politischen Betrieb wissen. Und nicht nur das: Zwischen vielem, was Informierten schon lange klar war, werden in allen drei Interviews immer wieder Punkte beleuchtet, die in der aktuellen Situation nicht relevanter sein könnten.
Die Interviews mit Julia Ioffe und Masha Gesson und Antony Blinken sind Teil des Investigativ Formats FRONTLINE des US-Senders PBS und abrufbar auf YouTube.
The Putin Files: Masha Gessen
The Putin Files: Julia Ioffe
The Putin Files: Antony Blinken
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