Good Reads: Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen.
Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen., Rüdiger von Fritsch, Aufbau Verlag, Berlin 2022; 176 Seiten, 18,00 €
Die Messlatte lag hoch: Nach Russlands Weg (2020) hätte Rüdiger von Fritsch leicht im Bekannten verharren können. Stattdessen öffnet er die Tür einen Spalt weiter. In kompakten Anekdoten und klaren Thesen führt er in das Herz des „Systems Putin“ – nicht als Chronist der Schlagzeilen, sondern als Diplomat, der Räume, Rituale und Reflexe kennt. Was folgt, ist keine Entlastung, sondern ein nüchterner Blick auf eine Parallelwelt, deren Logik Europa immer noch unterschätzt.
Von Fritsch verbindet Beobachtung und Einordnung: die Prägung durch den KGB, die Arbeitsweise des Kreml, die systematische Allianz mit Desinformation. Er zeigt, warum der G8-Tisch 2014 kaum für späte Wunder taugte, und warum der Westen – Deutschland zumal – zu oft zwischen Naivität, Opportunismus und Zögern pendelte. Der Befund ist ungemütlich, gerade deshalb hilfreich: Wer Handlungsspielräume verstehen will, muss zuerst die Selbstbilder hinter sich lassen.
Stark ist das Buch, wenn es die großen Linien an greifbaren Szenen erdet: ein Verhandlungsgang, ein Satz, ein Seitenblick – genug, um die Eskalation auf russischer Seite in ihrer Logik sichtbar zu machen. Zugleich räumt der Autor mit beliebten Legenden auf, etwa der von der angeblichen „Umkreisung“ Russlands: Die Faktenlage, sauber sortiert, lässt wenig Ausweichraum.
Nicht alles ist neu – doch vieles wird neu lesbar. Von Fritsch spart den Westen nicht aus, ohne in Selbstbezichtigung zu kippen; er argumentiert knapp, prüfbar, mit der Geduld des Praktikers. Wer Russlands Politik verstehen möchte, ohne Illusionen zu adoptieren, findet hier eine präzise Anleitung – rechtzeitig in einer Debatte, die sonst zu schnell in Lager gerinnt.