Good Reads: Rüdiger von Fritsch: Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen.

Erscheinen im Aufbau Verlag, Berlin, 2022, kartoniert 176 Seiten, 18,00 EUR

Für Rüdiger von Fritschs neustes Buch über seine Zeit in Russland lag nach dem letzten Resümee seiner Zeit als Botschafter in Moskau, „Russlands Weg. Als Botschafter in Moskau“ aus dem Jahr 2020 die Messlatte bereits hoch. Doch zu befürchten war: neben den neuen Perspektiven, die angesichts des Kriegs Russlands in der Ukraine zu erwarten waren, könne dieser Band nicht viel Neues enthalten. Das Gegenteil ist der Fall: Rüdiger von Fritsch nimmt in Anekdoten mit auf eine tiefere Reise in das Herz des „System Putin“, seine Reflexionen transportieren -zumindest für Europa- neue und dabei stets ungefiltert wirkende Momentaufnahmen aus der Parallelwelt des Kreml.

So wird schnell klar: Hier legt ein Diplomat, der seine Erfahrungen in Russland wie kein anderer zu analysieren versteht, erneut ein höchst aktuelles Buch vor, das den Leser mit vielen neuen Perspektiven schnell fesselt. Und das ist wichtig. Denn gerade, während ein Teil der Öffentlichkeit nicht mehr täglich an die Schreckensmeldungen aus dem Osten Europas erinnert werden möchte, und der Diskurs darüber hinaus auf eine scheinbar in unseren Tagen unweigerliche Polarisierung zweier Fraktionen zuschreitet, die exklusiv ihre eigenen Argumente pflegen, wird klar, dass auch bei jenen, die nach wie vor an einer faktenbasierten Debatte um den richtigen Kurs Deutschlands gegenüber dem Kremlchef interessiert sind, viele schwer verdaulichen Tatsachen aus Putins Biografie vorbeigegangen sind. Diese Lücke schließt Rüdiger von Fritsch, und man muss anerkennend hinzufügen: geradezu nebenbei. Denn so bilden die klug und klar darlegten Schilderungen des Autors über seine wichtige Analyse Putins hinaus eine Chronologie, welche die Eskalation auf russischer Seite nachzeichnet. Und, auch hier hält sich Fritsch nicht zurück: Auch das unkoordinierte Taktieren des Westens wird ausgiebig beleuchtet. Nicht überraschend hat der deutsche Diplomat dabei einen besonders scharfen und oft kritischen Blick auf die Rolle Deutschlands, welche in seiner Darstellung von Beginn an durch naive Unkenntnis, bewusster Ignoranz, Opportunismus sowie Zerrissenheit geprägt ist.

In der Analyse Russlands nimmt die prägende Zeit des Kremlchefs als KGB-Mann genauso auch die Darstellung der Dimensionen der unheilvollen Allianz der russischen Regierung mit Falschdarstellungen und Lügen einen erfreulich ausführlichen Teil ein. So entkräftet Rüdiger von Fritsch spielend das Argument, man hätte etwa auf dem G8-Gipfel im Jahre 2014 noch eine späte diplomatische Wende erreichen können. Denn als Unterhändler zwischen 2007 und 2010 habe er aus nächster Nähe erfahren, wie Russland 2014 politisch agierte. So hätten seine russischen Kollegen praktisch nie Weisung gehabt, die „Chancen dieser Gruppierung zu nutzen“, etwa durch Initiativen „internationale Probleme aufzugreifen und konkrete Lösungen auf den Weg zu bringen“. Weder bei dem damals schon drängenden Thema der Bekämpfung der Malaria noch beim 2014 erstmalig in einem Group of Eight-Format in größerem Ausmaße diskutierten Thema der Klimapolitik. Fritsch schließt: „Passte der russischen Politik eine Initiative der Partner jedoch nicht, lief der Kollege zu großer Form auf, um diese zu torpedieren.“

Auch zur angeblichen Bedrohung Russlands durch die NATO findet der Botschafter a.D. deutliche Worte: „NATO-Truppen stehen in Europa nur in NATO-Mitgliedstaaten. Russische Truppen hingegen bis heute in drei europäischen Staaten – gegen deren Willen: in Georgien, in der Ukraine und in der Republik Moldau.“ Ob es dem Wunsch des belarussischen Volkes entspricht, russische Truppen im Land zu haben, darf bezweifelt werden.“

Dass Putins Narrativ von der „Umkreisung“ seines Mutterlandes nichts mehr als eine solche ist, auch wenn er es inzwischen selbst glauben mag, machen dessen eigenen Worte deutlich, die Fritsch im Jahre 2004 findet, als auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Gerhard Schröder in Russland, wenige Tage nach der zweiten NATO-Osterweiterungsrunde um Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien sagte: „Hinsichtlich der NATO-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“

Wenn Rüdiger von Fritsch nachzeichnet, welche möglichen Implikationen sich aus einer vollständigen Umsetzung des Maßnahmenkomplexes von Minsk II durch Ukraine hätte, erreicht Zeitenwende einen weiteren Höhepunkt seiner politischen Aktualität. Wäre die im Abkommen vorgesehene Dezentralisierung des Landes erfolgt, stellt Fritsch fest, hätte dies die Festschreibung des politischen Einflusses durch Russland bedeutet. Man kann dies, anders als Fritsch begrüßen. Seine nachvollziehbar geschilderten Eindrücke kann man jedoch eben sowenig widerlegen, wie man die Ergebnisse seiner Analysen leicht von der Hand weisen kann. Rüdiger von Fritsch versucht zu verstehen, ordnet und legt dabei seine Haltung klar dar. Dieses Buch sei im Besonderen all jenen empfohlen, welche die russische Seite verstehen wollen, ohne dabei die Details eines Systems zu kennen, welches dessen Präsident erschaffen hat, und aus welchem selbiger schwerlich noch aussteigen kann. 

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