Die Eckdaten sind schnell zusammengefasst: Am 4. April hat der umtriebige Tech-Unternehmer Elon Musk Twitter für knapp 2,9 Milliarden Dollar gekauft. Dafür erhielt er laut den Börsendokumenten 73,5 Millionen Twitter-Aktien, was einem Anteil von 9,2 Prozent an der Twitter Inc., dem legendären Kurznachrichtendienst aus San Francisco, entspricht. Im Anschluss hat er sich selbst zum CEO und zum Verwaltungsratspräsidenten erklärt. Zuvor hatte er angekündigt, „Meinungsvielfalt“ auf der Plattform auszuweiten und möglicherweise einige „lebenslängliche Sperren“, wie jene des ehemaligen US-Präsidenten, zu überdenken. Einige feiern den Milliardär dafür als Heiland der ‚wahren Liberalen‘ und Retter der freien Meinungsäusserung im Word Wide Web und das neue Twitter als „Markplatz der Debatte“. Andere wiederum verdammen ihn nicht nur zum Totengräber des blauen Vogels, sondern auch jeglicher Fortschritte, die die Regulierung und Etablierung von Rechtssicherheit im digitalen Raum in den vergangen Jahren gemacht habe. Für viele scheint der Abstieg Twitters zu einer „gesetzesfreien  Höllenlandschaft“, in der insbesondere Rassisten und Verschwörungstheoretiker regieren, nicht mehr weit.

Damit hat Elon Musk mit dem Erwerb von Twitter nicht nur seine eigene, ganz simple Antwort auf eine entscheidende Frage präsentiert: Wie viel Debatte verträgt die Demokratie? Er hat auch die Debatte um den schwierigen Tanz  zwischen Meinung und Polemik wieder zurück auf die oberen Ränge des globalen Diskurses gebracht. 

Musk: Eine irrationale Rationalität

Ähnlich wie die Enden des Diskurses pendelt auch der Geschäftsmann zwischen den Extremen. Durch Ideale getriebener Visionär einerseits, rücksichtsloses Dealmaker andererseits. Gerade durch und in Widersprüchen scheint Musk Fortschritte zu machen. Hat er erst einen Plan gefasst, lässt er sich nicht aufhalten. Auch mit seiner jüngsten Übernahme von Twitter scheint sich dieser Trend vorerst fortzusetzen. Eine Schlammschlacht mit der Öffentlichkeit und Teilen des (nun ehemaligen) Topmanagements von Twitter, das die geneigte Followerschaft plattformübergreifend unterhielt und Investoren schlaflose Nächste kostete, darf der 51-jährige Südafrikaner neben dem größten E-Autobauer, einer Raketenfirma und einem Bohr-Unternehmen nun also auch eines der einflussreichsten Sozialen Netzwerke sein Eigen nennen. Und er bringt viele Ideen und Pläne mit – nebst einem Waschbecken. So soll es den berühmt-berüchtigten Bots an den Kragen gehen, die Moderation stark reduziert und der blaue Haken monetarisiert werden. Jede dieser Maßnahmen könnte die Verluste schreibende Twitter Inc. näher an die Gewinnzone führen, oder, wie die Kritiker befürchten, eben jene Meinungsfreiheit, als deren Verteidiger sich Musk inszeniert, vernichten und nebenbei auch den Mikroblogging-Dienst selbst in den Ruin treiben. Doch: Nicht gegen jede Art der Inhalte-Moderation sei er, so Musk. Es solle lediglich sichergestellt werden, dass Nutzer im Rahmen des Legalen frei ihre Meinung äußern können.

Wieso überhaupt Twitter?

Obwohl Twitter kommerziell bislang wenig erfolgreich war, gilt es dennoch als eine der wichtigsten Plattformen für den öffentlichen Diskurs. Kein anderes Medium vereint Spitzenpolitiker, Prominente, Wissenschaftler, Firmen und Aktivisten derart auf Augenhöhe mit den politisch und gesellschaftlich Interessierten weltweit. In Echtzeit können Perspektiven und Fakten ausgetauscht, Neuigkeiten verbreitet und wichtige gesellschaftliche und politische Themen diskutiert werden – all das in kürzester Zeit und innerhalb eines Netzwerkes aus tausenden von Nutzern. Im Internet bisher einzigartig sind tatsächlich besonders die twittereigenen Vernetzungsmöglichkeiten: Die Begrenzung der Beiträge auf wenige Worte sorgt dafür, dass die Inhalte zumeist präzise und leicht verdaulich sind. Gemeinsam mit der rasanten Verbreitung von Information entsteht so ein niederschwelliger, interaktiver Diskurs, in dem auch jene Stimmen gehört werden, die anderswo eher untergehen. Wissen wird also nicht nur zugänglicher, sondern auch vielfältiger. Außerdem wird es dezentraler: Einzelne Personen oder Institutionen bestimmen nicht mehr von oben herab, was gewusst und worüber gesprochen wird. Diskurs ist stattdessen, was immer die breite Masse der Nutzer beschäftigt. Sogar zentrale Machtstrukturen können somit, zumindest ein Stück weit, umgangen und unterlaufen werden, beispielsweise, wenn Minderheiten oder Aktivsten die Plattform nutzen, um eine Perspektive zu kommunizieren, über die so nicht berichtet wird. Wichtige Themen können vor dem Vergessenwerden bewahrt und Einblicke in komplexe gesellschaftliche Realitäten gewährt werden. Das funktioniert zum Beispiel aktuell für die Proteste im Iran: Täglich veröffentlichte neue Videos zeigen mutige Akte des Widerstandes, klären auf, und verbinden Aktivisten untereinander. Lesen und kommentieren kann diese Inhalte letztlich jeder, der auch einen Account hat. Insofern bildet Twitter durchaus ein modernes Äquivalent zu den Salons und Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts: eine Art Forum Romanum der Neuzeit.

Ist das Meinung oder kann das weg?

Die Gretchenfrage, wie viel Meinungsfreiheit nun überhaupt möglich ist und was letztlich unter den Oberbegriff fällt, stellt sich allerdings schon viel länger und hat nicht zuletzt auch in den Pandemiejahren weiter an Bedeutung gewonnen – gerade auch auf Twitter: Die Plattform hatte bisher strengere Moderationsregeln als gesetzlich vorgeschrieben. So wurden Nutzerinnen und Nutzer, die Verschwörungstheorien und Falschnachrichten verbreiteten, konsequent blockiert oder gekennzeichnet. Das Problem: Nicht immer lassen sich Fakten und Meinungen klar trennen. Was auf den ersten Blick simpel und einfach scheint, erweist sich in der Realität nicht selten als komplexe Einzelfallprüfung. Oft verschwimmen die Grenzen auch – wenn nicht tatsächlich, dann zumindest in den Köpfen all jener, die sich in der Vergangenheit immer wieder übergangen und ungehört gefühlt haben. Das ist besonderes bei jenen der Fall, die sich in einem, vermeintlich, tendenziell progressiveren Diskurs nicht wiederfinden. Twitter-Kritiker, zu denen Musk selbst auch zählte, sahen daher den freien demokratischen Diskurs durch die strikte Moderation von Inhalten gar bedroht: Konservative Ideen würden unterdrückt, progressive Meinungen indes bevorzugt. Radikale Meinungsfreiheit, in der nichts mehr unsagbar sein sollte, gilt in diesen Kreisen als Lösung. Nur indem Ansichten der ständigen Herausforderung durch gegensätzliche Perspektiven ausgesetzt seien, könne ein Abdriften zu extremeren Polen verhindert und das diskursive Gleichgewicht gewahrt werden. Aus diesem Grund rief Musk auch erst kürzlich anlässlich der amerikanischen Midterm-Wahlen dazu auf, für die Republikaner zu stimmen – um einen Ausgleich zum demokratischen Präsidenten zu schaffen. Schwierig ist hierbei für Skeptiker allerdings nicht das Anbringen gegensätzlicher oder kritischer Argumente, sondern eine unscharfe Trennung zwischen Meinung und Polemik. Wo hört ein vertretbarer Standpunkt auf und wo beginnen Rassismus, Sexismus oder Homophobie? Wer entscheidet das? Und: Müssen solche Ansichten, die selbst den Prinzipien demokratischer Wertegemeinschaften widersprechen, wirklich noch gehört werden? Muss eine Demokratie so etwas aushalten? Oder riskiert sie so ihre eigene Abschaffung, ganz gemäß dem Paradox der Toleranz nach Karl Popper?Brisante Fragen – besonders in einer Gesellschaft, die mit ihren verhärteten diskursiven Fronten ohnehin schon dazu neigt, nuancierte Sichtweisen zugunsten einfacher Lösungen zunehmend aufzugeben.

Musks Twitter als Gefahr für die Demokratie : eine begründete Sorge?

Welchen Effekt die Übernahme von Twitter durch Musk haben wird, lässt sich aktuell noch nicht absehen. Innerhalb der ersten Tage fiel die Plattform zwar durch den stark zugenommenen Gebrauch von rassistischen Beleidigungen auf, als einige Befürworter des musk‘schen Modells ihre neuen Grenzen austesteten. Allerdings erließ der „Chief Twit“, wie Musk sich selbst nennt, in einigen Mitteilungen schnell Dekret-ähnliche, noch wenig durchdacht wirkende neue Regeln – wohl in Reaktion auf einzelne unerwartete Nebenwirkungen und Missbräuche der neugewonnenen ‚Freiheit‘. So müssen beispielsweise Parodie-Accounts künftig deutlich gekennzeichnet werden. Mit weiteren Einschränkungen ist durchaus zu rechnen – nicht zuletzt auch, weil selbst Twitter nicht über dem Gesetz steht. Auch in Zukunft wird die Plattform an regional bedingte Vorgaben und Pflichten für Onlineplattformen gebunden sein. Zusätzliche Grenzen setzt ganz schlicht der Markt: Wer auf Twitter Werbung schaltet, möchte vermutlich auch künftig nicht mit Aufrufen zur Gewalt, Nazi-Sprüchen und radikaler Hassrede in Verbindung gebracht werden. Dennoch ist die symbolische Schlagkraft des Ganzen nicht zu unterschätzen. In jedem Fall gilt nämlich: Die Diskussion um Twitter, seine ursprüngliche Methode der Inhalte-Moderation und die Grenzen der Meinungsfreiheit sind ein Zeichen für einen demokratischen Diskurs in der Krise. Insbesondere eher konservative oder rechts tendierende Kreise fühlen sich schon seit langem abgehängt, von der Debatte ausgeschlossen. Dass ihnen von einer derart im Rampenlicht stehenden Person wie Musk nun ihre gefühlte Marginalisierung attestiert wird, gleicht beinahe einem Ritterschlag. Gleichzeitig bietet sich allerdings nun die Möglichkeit, neu zu verhandeln, wie wir als Gesellschaft künftig streiten, diskutieren und uns austauschen wollen, was unsere Demokratie aushält und was überhaupt gesagt werden kann. Diese Chance sollten wir nutzen.

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